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Die Gruppe schleppte sich zehn Meilen durch ein neues Flachland. Dann versuchten die Männer ein wenig zu schlafen, aßen eine Kleinigkeit und kletterten weiter. Der vor ihnen aufragende Berg erwies sich als schroff, steil und schwer bezwingbar. Ihr Hauptgegner war der Sauerstoffmangel. Die Männer rangen nach Luft und mußten des öfteren Pausen einlegen.
Joes Füße taten weh, und er humpelte, aber er bat dennoch nicht um eine Rast. Solange die anderen konnten, wollte er sich keine Blöße geben.
»Leider kann Joe sich nicht so lange auf den Beinen halten wie ein Mensch«, erklärte Sam. »Für seine Spezies sind Plattfüße geradezu charakteristisch. Er ist einfach zu groß für einen Zweibeiner. Ich frage mich, ob seine Rasse nicht ausgestorben ist, weil sie sich ewig die Fußrücken brach.«
»Ich kenne ein Fpefimen, daf der Gattung Homo fapienf angehört und garantiert an einem gebrochenen Nafenbein fterben wird, wenn ef nicht endlich dafu übergeht, fein Riechorgan auf Dingen herauffuhalten, die ef defwegen nichtf angehen, weil fie mich betreffen«, sagte Joe.
Die Männer, so erzählte er weiter, kletterten immer höher, bis der Fluß, so breit und gewaltig, wie er war, unter ihnen nur noch wie ein Wollfaden wirkte, und manchmal war es ihnen wegen des herrschenden Nebels nicht einmal möglich, ihn überhaupt zu sehen. Schnee und Eis machten das Weitergehen zu einem halsbrecherischen Unternehmen. Schließlich entdeckten sie einen Weg, der auf ein weiteres Plateau abwärts führte, und folgten ihm. Dabei mußten sie sich durch den Nebel tasten und sich einem Wind entgegenstemmen, der heulte wie ein ganzes Wolfsrudel und mit aller Kraft auf sie einpeitschte.
Schließlich fanden sie in den Bergen ein gewaltiges Wasserloch, aus dem der Fluß entsprang. In allen Richtungen – ausgenommen der, aus welcher sie gekommen waren – erhoben sich steile glattflächige Berge. Der einzige Weg, den sie weitergehen konnten, führte mitten in das Loch hinein, und aus ihm heraus donnerte ein so lautes Brüllen, daß es den Männern unmöglich war, sich untereinander zu verständigen. Es war wie die Stimme eines Gottes, der mit der Lautstärke eines Orkans sprach.
Joe Miller fand schließlich hoch über dem Loch einen Sims, der in eine Höhle hineinführte, und stellte fest, daß der Häuptling der Zwerge von nun an offensichtlich weniger galt als zuvor. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß die Zwerge in ihm nicht nur einen Helfer, sondern offenbar auch einen Führer sahen. Als sie mit lauten Schreien versuchten, das betäubende Donnern der Wassermassen zu übertönen, nannten sie ihn Tehuti. Normalerweise wäre das nichts Ungewöhnliches gewesen, aber bisher hatte Joe stets den Eindruck gehabt, daß die Art, in der sie seinen Namen aussprachen, ein bißchen nach Verulken klang. Jetzt nicht mehr. Er war jetzt wirklich ihr Tehuti geworden.
Clemens unterbrach Joes Erzählung erneut. »Es muß ungefähr so gewesen sein, als würden wir einen Dorftrottel mit einem Namen wie Jehova belegen. Es ist nun mal die Art der Menschen, die Götter zu verspotten, wenn sie ihrer nicht gerade bedürfen. Aber sobald es ihnen dreckig geht, rufen sie nach ihnen. Möglicherweise ist Joe den Ägyptern in diesem Moment wirklich wie Thoth erschienen, der sie auf den Eingang der Unterwelt zuführte. Natürlich beziehe ich mich mit dieser Vermutung nur auf das menschliche Bedürfnis, aus jedem Symbol eine Übereinstimmung zu konstruieren. Wenn man einen Hund bürstet, wird man schon irgendwann einmal auf einen Floh stoßen.«
In diesem Moment stieß Joe Miller durch seine grotesk geformte Nase heftig die Luft aus und sein mächtiges Kinn zitterte, als wolle er etwas sagen, das er nicht über seine Lippen kommen lassen wollte. Unzweifelhaft hatte ihn jetzt wieder die Erinnerung im Griff und erzeugte in ihm ein längst verdrängtes Entsetzen.
Die Felsöffnung hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Tunnel, der sie durch den Berg geführt hatte. Der darunterliegende Gang war unbearbeitet und natürlich und verfügte über eine solche Anzahl von hindernden Vorsprüngen, daß Joe sich die meiste Zeit über wie ein Tänzer hin und her winden mußte, um nicht anzustoßen. Die Dunkelheit war so tief, als hätte er das Augenlicht verloren, und auch sein Gehörsinn nützte ihm in diesem Fall nichts, dazu war das Donnern der Wassermassen zu stark. Alles, worauf er sich verlassen konnte, war sein Tastsinn, und auch dieser führte ihn so oft in die Irre, daß er sich zu fragen begann, ob er überhaupt noch funktionierte. Dennoch war dies die einzige Möglichkeit, voranzukommen. Wenn er aufgegeben hätte, wären die ihm folgenden Männer keinen Schritt weitergegangen.
»Wir hielten f-fweimal an, um fu effen, und einmal, um fu flafen«, berichtete Joe. »Und gerade, alf ich mir dachte, daff wir hier wahrscheinlich herumkrabbeln müften, bisf unf die Nahrung aufging, fah ich vor mir etwaf Grauef. Ef war kein Licht. Ef war hier blof ein wenig weniger dunkel.«
Sie befanden sich außerhalb der Höhle in der frischen Luft, mitten auf dem Berg. Mehrere tausend Meter unter ihnen lag ein Wolkenmeer. Die Sonne lag versteckt hinter den Bergen, aber der Himmel hatte sich noch nicht verfinstert. Der schmale Sims führte weiter, und so krabbelten sie auf ihren zerschundenen Händen und Knien abwärts, da der Weg sich praktisch zu einem Nichts verengte.
Zitternd griffen die Männer nach den winzigsten Löchern, um sich einen Halt zu verschaffen. Einer von ihnen rutschte plötzlich aus, stürzte, prallte gegen einen anderen und riß ihn mit sich in die Tiefe. Beide verschwanden aufschreiend zwischen den tiefhängenden Wolkenbänken.
Die Luft wurde wärmer.
»Weil der Fluß seine Wärme abgab«, erklärte Clemens. »Er entspringt nicht nur am Nordpol dieses Planeten, sondern versickert auch dort, nachdem er sich auf seinem serpentinenförmigen Weg um den ganzen Planeten mit Wärme angereichert hat. Die Luft am Nordpol ist zwar kalt, aber noch lange nicht so frostig wie die am Nordpol der Erde. Aber natürlich ist das alles reine Spekulation.«
Die Männer erreichten, so berichtete Joe, einen andere Plattform, auf der sie rasten konnten, musterten das Gebirge und bewegten sich seitwärts weiter wie Krabben. Die Plattform, auf der sie sich befanden, zog sich um den Berg herum. Joe hielt an. Das enge Tal verbreiterte sich zu einer breiten Ebene. Unter sich, in weiter Ferne, konnte er hören, wie Brecher gegen die Felsen anrannten.
Trotz der herrschenden Dämmerung war es Joe möglich zu erkennen, daß der Polarsee völlig von Bergen umgeben war. Der wolkenbedeckte See unter ihm bedeckte ein Gebiet von wenigstens sechzig Meilen im Durchmesser. Am anderen Ende waren die Wolken dichter. Damals wußte er natürlich noch nicht, woran das lag, aber Sam hatte ihm erklärt, daß sich dort die Mündung des Flusses befinden mußte, wo das erwärmte Wasser mit der kalten Luft in Berührung kam.
Joe machte einen Schritt um die Kurve des Simses herum.
Und sah den grauen Metallzylinder, der vor ihm auf dem Pfad stand. Zuerst verstand er überhaupt nicht, was das bedeuten sollte. Das Ding sah für ihn in diesem Moment einfach nur fremdartig aus. Außerdem hatte er es nicht erwartet. Dann wurden die Umrisse des Gegenstandes plötzlich vertraut, und er begriff, daß er einen Gral vor sich hatte, den jemand, der vor ihm diesen Weg gegangen war, hier zurückgelassen haben mußte. Irgendein unbekannter Pilger mußte also die gleichen Gefahren überstanden haben wie er. Zumindest bis hierhin. Er hatte den Gral abgestellt, um zu essen, denn der Deckel war noch offen, und der dem Behälter entströmende Gestank wies darauf hin, daß sich in ihm noch die Überreste einer Mahlzeit aus Brot und Fisch befinden mußten. Der Pilger hatte den Gral also möglicherweise bis an diesen Ort mitgeschleppt, weil er die Hoffnung gehabt hatte, in dieser Umgebung auf einen Stein zu stoßen, auf dem er ihn wieder füllen konnte.
Irgend etwas war mit ihm passiert. Wenn er nicht getötet oder vor etwas in panischer Angst davongelaufen war, hätte er den Gral sicher nicht einfach hier zurückgelassen.
Bei diesem Gedanken bekam Joe einen Gänsehaut.
Er machte einen weiteren Schritt, brachte die Biegung des Simses hinter sich und schritt an einer Felsschulter aus Granit vorbei. Einen Moment lang verlor er den See aus den Augen.
Und dann schrie er auf.
Im gleichen Moment riefen die Männer nach ihm und fragten, ob er in Schwierigkeiten geraten sei.
Aber Joe war in dem Augenblick nicht in der Lage, ihnen irgendwelche Auskünfte zu geben. Sein gesamtes Wissen um die fremde Sprache hatte ihn innerhalb einer Sekunde verlassen, und alles, was er hervorbrachte, waren aufgeregte Laute in seiner eigenen urtümlichen Sprache.
Die Wolken in der Mitte des Sees hatten sich auseinandergezogen und ließen die Spitze eines seltsamen, riesenhaften Objekts erkennen. Es war zylinderförmig, von grauer Farbe und sah auf den ersten Blick aus wie ein riesenhafter Gral. Der das Ding umgebende Nebel hob und senkte sich träge. Während das Objekt in der einen Sekunde zu sehen war, war es in der anderen bereits wieder verschwunden.
An irgendeiner Stelle der Berghöhen, die den Polarsee umringten, mußte ein Einschnitt existieren, der in diesem Moment kurz die Strahlen der Sonne durchließ, denn ein heller Lichtstrahl fiel plötzlich auf die Turmspitze.
Joe kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt auf jene Stelle, die die Helligkeit reflektierte.
Etwas Rundes erschien jetzt auf der Höhe der Turmspitze und sank langsam darauf zu. Es war eiförmig und weiß und stellte den Punkt dar, auf dem die Strahlen der Sonne sich brachen.
Einen kurzen Augenblick später erlosch das Sonnenlicht und ließ das Objekt wieder verschwinden. Sowohl das eiförmige Ding, als auch der Turm versanken im Nebel. Joe, der im gleichen Moment, in dem das fliegende Objekt aufgetaucht war, einen Schrei ausgestoßen hatte, taumelte zurück. Dabei stieß sein Fuß gegen den Gral, den der Unbekannte auf dem Felsensims zurückgelassen hatte.
Er streckte zwar die Arme aus, um das körperliche Gleichgewicht wiederzufinden, aber diesmal war auch seine affenartige Gewandtheit nicht mehr in der Lage, ihn vor dem Absturz zu bewahren. Er machte eine halbe Drehung, wandte dem gähnenden Abgrund den Rücken zu und verlor vollends den Boden unter den Füßen. Joe fiel. Mehrere Male konnte er die vor Angst und Schreck verzerrten Gesichter seiner Kameraden erkennen, die mit aufgerissenen Augen in lautlosem Entsetzen dastanden, ohne ihm beistehen zu können, während er auf die tiefhängenden Wolken und das darunterliegende Wasser zustürzte.
»Ich weif nicht einmal mehr, ob ich bei Bewuftfein war, alf ich auf daf Waffer aufflug«, sagte Joe. »Alf ich wieder fu mir kam, fand ich mich an einer Ftelle wieder, die nur fwanfig Meilen von dem Ort entfernt war, wo Fäm Clemenf fich aufhielt und hauptfächlich Leute auf den nordifen Ländern def fehnten Jahrhundertf nach Chrifti lebten. Und ich mufte von Neuem eine Fprache lernen. Die kleinen Winfignafen hatten Angft vor mir, aber dann wollten fie, daf ich mit ihnen fufammen kämpfte. Dann traf ich Fäm und wir wurden Kumpelf.«
Eine Weile schwiegen sie. Joe hob sein Glas an seine Schimpansenlippen und leerte es mit einem Zug. Bewegt sahen die anderen ihn an. Das einzige Licht, das jetzt noch zu erkennen war, kam von den glühenden Enden ihrer Zigarrenspitzen.
Schließlich sagte von Richthofen: »Dieser Mann, von dem du sagtest, er hätte ein Stirnband mit einer stilisierten Sonne getragen… Wie, sagtest du, war sein Name?«
»Feinen Namen habe ich gar nicht erwähnt.«
»Aber wie hieß er?«
»Echnaton. Fäm weif mehr über ihn alf ich, obwohl ich faft vier Jahre mit ihm fufammen war. Fumindeft behauptet Fäm daf. Aber…« – Joe grinste plötzlich wie ein selbstzufriedener Faun – »… ich kannte den Mann perförtlich. Waf Fäm über ihn behauptet, find lediglich fogenannte hiftorife Tatfachen.«